Reifeprozess im Exil
Am 31. Oktober 2002 feierte unsere Alte Dame in der 2. Runde des UEFA-Cups einen 1:0-Auswärtserfolg bei APOEL Nikosia. Torschütze damals: Bartosz Karwan. Von Position: Rechtsaußen. Am gleichen Tag erblickte Marten Winkler in Frankfurt (Oder) das Licht der Welt. Über 20 Jahre später stellt der Brandenburger so etwas wie einen Nach-Nachfolger des polnischen Flügelflitzers bei unseren Herthanern dar. Nach einer einjährigen Leihe in die 3. Liga zum SV Waldhof Mannheim ist Winkler zurück bei unserem Hauptstadtclub. „Es war meine erste richtige Saison im Profibereich – und die hat mir echt gutgetan. Dabei war ich sehr viel auf mich allein gestellt. Ich denke, dass ich das gut gemeistert habe und bin sehr zufrieden damit, wie alles gelaufen ist“, erklärt der Offensivakteur.
Startschwierigkeiten & die plötzliche Wende
Fernab von Familie sowie Freundin und Freunden musste sich der 20-Jährige erstmals in seiner fußballerischen Laufbahn im Exil außerhalb unserer Hauptstadt behaupten. „Ich hatte dort zwar alles, was ich brauchte – nichtsdestotrotz hat mir Berlin gefehlt. Die Leute, die Luft“, erinnert sich unser Eigengewächs und betont: „Am Anfang war das sehr, sehr hart für mich.“ Sportliche Startschwierigkeiten kamen hinzu. „Ich konnte zunächst nicht so richtig aus mir herauskommen, habe in dieser Zeit auch noch nicht so häufig gespielt“, sagt Winkler. Im Heimspiel gegen Rot-Weiss Essen Ende Oktober gelang jedoch die Wende: Zwar ging die Partie mit 1:2 verloren, doch das Talent spielte bei seinem erst zweiten Startelfeinsatz frisch auf und bereitete einen Treffer vor. „Diese Begegnung war befreiend und hat mir Selbstvertrauen gegeben, danach habe ich einen kleinen Lauf gestartet“, verrät der 1,84-Meter-Mann. Im folgenden Duell mit Dynamo Dresden, bei dem den Blau-Schwarzen – ebenfalls im eigenen Stadion – ein 2:1-Sieg glückte, brachte es der sprintstarke Angreifer auf ein Tor sowie einen Assist.
[>]Ich hatte dort zwar alles, was ich brauchte – nichtsdestotrotz hat mir Berlin gefehlt. Die Leute, die Luft.[<]
Der Bann war gebrochen, Winkler endgültig angekommen – sportlich wie menschlich. „Mit der Zeit habe ich auch meine Teamkollegen immer besser kennengelernt, was es viel einfacher gemacht hat. Die gesamte Mannschaft hat mir geholfen, Fuß zu fassen und Fußball auf eine andere Art und Weise zu lernen“, betont der Youngster. Von Haudegen wie Marco Höger und Marc Schnatterer schaute sich unsere Leihgabe viel ab – sowohl auf als auch neben dem Platz. Obendrein stimmte das Verhältnis zum Übungsleiter. „Ich habe Christian Neidhart und seinem Trainerstab einiges zu verdanken. Sie haben mir sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Auf meiner Position gab es einige andere Spieler mit mehr Erfahrung – dennoch bin ich auf meine Einsätze gekommen“, unterstreicht der Außenbahnspieler. Insgesamt neun Treffer und fünf Vorlagen sprechen Bände. „Ich bin sehr zufrieden, obwohl ich mir 15 Scorerpunkte vorgenommen hatte“, gibt Winkler mit einem Schmunzeln zu. „Da wusste ich aber noch nicht, wie hart diese Liga ist. Als junger Spieler unterschätzt man das vielleicht etwas.“ Ein Satz des 20-Jährigen, der die Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit verdeutlicht. „Ich bin viel reifer geworden. Natürlich steckt in mir weiterhin etwas Freches und Kindliches, das soll auch so sein. Dennoch weiß ich mittlerweile meine Grenzen besser einzuschätzen“, so der Absolvent unserer Fußball-Akademie.
[>]Natürlich steckt in mir weiterhin etwas Freches und Kindliches, das soll auch so sein. Dennoch weiß ich mittlerweile meine Grenzen besser einzuschätzen.[<]
Mit zahlreichen wichtigen Erkenntnissen im Gepäck ging es vor wenigen Wochen zurück nach Spreeathen. „Ich habe die ganze Stadt vermisst. Das Gefühl ist direkt ein anderes. Ich liebe Berlin, das ist mein Zuhause und Hertha mein Verein“, stellt der Blau-Weiße klar. Während seiner Abstinenz hat Winkler natürlich trotzdem das Geschehen rund um unseren Hauptstadtclub verfolgt und Kontakt gehalten. Allen voran zu Linus Gechter, der die Rückrunde – ebenfalls leihweise – bei Eintracht Braunschweig verbracht hat. Das Gesicht unserer Nummer 44 ist eines von vielen bekannten, die unser Rückkehrer nun wieder regelmäßig trifft. Dazu zählen auch Pál Dárdai, Benjamin Weber und Andreas „Zecke“ Neuendorf. „Ich freue mich sehr, dass es Leute im Verein gibt, die mich schon länger kennen und die mir Vertrauen schenken. Ich wollte die ganze Zeit zurück nach Berlin und wusste, wenn ich in der 3. Liga gute Leistungen bringe, dass ich Chancen habe, hier spielen zu dürfen. So gehe ich es weiterhin an“, erklärt Winkler, dessen Motivation bereits in den ersten drei Testspielen zu erkennen war und sich in drei Toren widerspiegelte. „Marten ist ein großes Talent, das leider hin und wieder mit Verletzungen zu kämpfen hatte. Er ist sehr schnell und hat einen guten Schuss. Jetzt gilt es, seine Torgefahr auch bei uns konstant unter Beweis zu stellen. Ich bin froh, dass Marten zum Team zählt. Der Schritt in die 2. Liga ist für ihn genau der richtige“, erklärt unser Chefcoach. Sein Schützling sieht es ähnlich: „Für mich ist es quasi ein Aufstieg. Ich freue mich darauf, will mich immer wieder neuen Herausforderungen stellen und an diesen wachsen“, sagt der Linksfuß, der sich auf der rechten Seite am wohlsten fühlt und auch im Eins-gegen-Eins zu überzeugen weiß.
Zwei Kurzeinsätze in der Bundesliga
Das Trainingslager in Zell am See bedeutet für den Spreeathener, der es bereits auf zwei Kurzeinsätze im deutschen Oberhaus für unsere Profis bringt, eine blau-weiße Premiere – in den Vorjahren hatte er aufgrund von Verletzungen stets passen müssen. „Wir haben hier alles – einen guten Platz, eine krasse Umgebung mit den Bergen, Spa und Unterhaltung“, berichtet Winkler, der die freie Zeit meist zum Schlafen nutzt. Nicht auszuschließen, dass unser Eigengewächs bei einem der nächsten Nickerchen auch einmal vom Olympiastadion träumt. In der Spielstätte lief unsere Nummer 22 bislang nämlich nur einmal – in der Saison 2020/21 – vor leeren Rängen auf. „Die Vorstellung, in einem ausverkauften Haus auf dem Platz stehen zu dürfen, treibt mich an – darauf arbeite ich hin“, erzählt der Herthaner mit einem Funkeln in den Augen. Zunächst gibt es in Vorbereitung darauf aber noch einiges zu tun. „Wir müssen uns alle noch besser kennenlernen, Automatismen entwickeln. Das ist völlig normal, dafür sind wir im Trainingslager. Die Vorfreude auf den Auftakt und den Moment, in dem ich unser Trikot in einem richtigen Pflichtspiel überstreife, ist jedenfalls riesengroß“, betont das Talent. Und vielleicht dauert es dann gar nicht so lange, bis Winkler das Jersey mit der Fahne auf der Brust öfter als sein Vor-Vorgänger getragen hat. Der inzwischen 47-jährige Karwan absolvierte wettbewerbsübergreifend 27 Einsätze für unsere Alte Dame. Aber: Ein Schritt nach dem anderen.