Die Grafik für den Herthanermoment von Jan Dittmer.
Fans | 26. Januar 2025, 16:20 Uhr

Dieser Moment, als ich Herthaner wurde

War es der erste Schal, den eure Eltern euch auf dem Weg zum Spiel gekauft haben? War es der erste durchs Olympiastadion hallende Hertha-Fangesang, der euch nachhaltig beeindruckt hat? Oder doch die Kunststücke einzelner Blau-Weißer auf dem grünen Rasen – von Ete Beer über Marcelinho bis hin zu Marko Pantelić? Jede Herthanerin und jeder Herthaner hat einen eigenen Weg in unsere blau-weiße Familie. Unser Hauptstadtclub sucht genau diese Geschichten – diesen Moment, als ihr Herthaner geworden seid.

Das Ende einer Leidenszeit

Wie fühlt es sich eigentlich an, sich ein zweites Mal zu verlieben? Und dann auch noch in den Verein, in den man eigentlich schon seit der Kindheit verliebt ist? Jan Dittmer, den zunächst etwas im eigenen Innern daran gehindert hatte, seine Liebe auszuleben, kann diese Fragen beantworten. Fünf Jahre ging er nicht ins Stadion. Und dann verliebte er sich ein zweites Mal in Hertha BSC. Im Herzen war er nie weg. Und doch brauchte es einen langen Kampf und eigene Seelsorge, um zurückzukehren.

Als Fabian Reese im September 2023 mit der ersten Chance im Spiel für Hertha BSC die Führung gegen den 1. FC Magdeburg schoss, stand Dittmer noch am Stadioneingang im Gedränge. Auch das zweite Tor des am Ende denkwürdigen Spiels bekam der Mann aus Sachsen-Anhalt nicht mit eigenen Augen zu sehen. Dass er frühe Tore verpassen könnte, hatte der 31-Jährige im Vorfeld mit seiner sehr späten Anreise eingeplant. Der Blau-Weiße leidet unter immer wieder aufkommenden Panikattacken, die ihm oft das alltägliche Leben erschweren, und vermeidet deshalb so gut es geht Menschenmengen.

Es war das Ende einer Zeit, in der der Ballenstedter einen Kampf mit sich selbst und seiner Psyche führte. Mittlerweile weiß der Fan, wie er die einzelnen Auseinandersetzungen gewinnen kann: „Panikattacken als Ausrede zu nutzen, ist auf Dauer nicht hilfreich. Ich darf mir im Vorfeld keine Gedanken machen und ich muss Pläne einfach durchziehen“, erklärt der Gas-Wasser-Installateur seinen Entschluss, nach fünf Jahren Pause wieder ins Stadion zu gehen. „Das letzte Mal war ich 2018 mit meiner Frau im Olympiastadion beim Spiel gegen RB Leipzig. Danach habe ich es nicht mehr geschafft, mich in größeren Menschenmengen aufzuhalten“, beschreibt er seinen Leidensweg.

Jan Dittmer und seine Frau im Magdeburger Stadion.
Jan Dittmer und seine Frau im Magdeburger Stadion.

Der intensivste Moment als Herthaner

Wenn sich bei Dittmer eine Panikattacke ankündigt, äußere sich die in Form von schwitzigen Händen, Schwindel und Übelkeit. Vor allem, wenn es keine Möglichkeit zu flüchten gibt. So auch an jenem Nachmittag in Magdeburg. „Ich hatte Platzangst und habe mich in dem Gedränge nicht wohlgefühlt. Aber meine Frau war bei mir. Sie versteht mich in diesen Momenten am besten, ist für mich da und gibt mir Schutz und Halt“, berichtet der Exilherthaner.

Als die beiden das Magdeburger Stadion betraten, versetzte die Atmosphäre Dittmer in eine nahezu kindliche Freude. „Ich stand da auf den Betontreppen, hatte noch den Duft der gezündeten Pyrotechnik in der Nase und hörte die tausenden Kehlen singen. Das waren etliche Eindrücke auf einmal. Ich hatte Tränen in den Augen. Weil ich irgendwie stolz auf mich selbst und gleichzeitig so froh war, endlich wieder in einem Stadion zu sein. Und dann auch noch bei einem Spiel meiner Hertha. Das hatte mich damals völlig übermannt“, gesteht er. Und trotz der zwei verpassten Treffer kam das Ehepaar voll auf seine Kosten und sah weitere acht Tore.

Blau-Weißer seit über 20 Jahren

Jan Dittmer würde jenen Moment vermutlich als den intensivsten beschreiben, den er im Hertha-Kontext erleben durfte und dabei war er zu diesem Zeitpunkt schon gut 20 Jahre Anhänger der Alten Dame. „In meiner Familie gab es schon immer einige Fußballfans. 2003 war ich als Neunjähriger das erste Mal im Olympiastadion.“ Sein Vater hatte ihn mit ins weite Rund in Berlin-Westend genommen. Hertha besiegte damals Borussia Mönchengladbach mit 2:1. Den jungen Jan hielt es nach dem späten Siegtreffer von Alexander Madlung kaum auf seiner Sitzschale. Ein großartiger Moment voller Ekstase. Als Kind verfolgte er die Spiele der Berliner im Marcelinho-Trikot. Mal von zu Hause aus auf der Couch, mal mit der Familie im Stadion von der Gegentribüne aus. Highlights wie das 6:1 gegen Eintracht Frankfurt am ersten Spieltag 2013 als frischgebackener Aufsteiger gehörten dazu. Aber eben auch Abstiege.

Zukünftig würde Dittmer seinen Hauptstadtclub gerne wieder im Oberhaus sehen wollen, allgemein sieht er Hertha BSC auf einem guten Weg. „Es ist schön, dass endlich etwas Ruhe eingekehrt ist.“ Und auch in seinem Inneren ist sie eingekehrt. Vor kurzem wurde Dittmers Vater 60 Jahre alt. Der Plan, das im Olympiastadion gegen den 1. FC Kaiserslautern zu feiern, steht bereits.

von Johannes Boldt