„Das war alles sehr historisch“
Der Fall der Berliner Mauer jährt sich am Samstag (09.11.24) zum 35. Mal. Damals hautnah dabei: Nello di Martino. Der Italiener, der im September 1971 an die Spree gekommen war, fungierte zu diesem Zeitpunkt als Torwarttrainer der Profis bei unserer Alten Dame. „Es standen überall Trabis und Wartburgs. Von diesen Zweitaktmotoren lag ein richtiger Gestank in der Luft. Das war alles sehr historisch, denn damit hatte ja niemand gerechnet. Solange ich schon in der Stadt lebte, war die Mauer da, West-Berlin dadurch wie eine Insel. In den folgenden Tagen herrschte Ausnahmezustand“, erinnert sich der 72-Jährige, der bis in die Gegenwart geblieben ist und sich aktuell um die Schlussmänner unserer U23 kümmert. Mit Redakteur Erik Schmidt unterhielt sich das Urgestein über Reaktionen aus seiner Heimat, das geteilte Berlin und Kontakte zur anderen Seite.
Nello, vielen Dank, dass du dir Zeit für dieses besondere Thema nimmst! Wie gut kannst du dich noch an jenen 9. November 1989 erinnern? Wo und wann hast du vom Mauerfall erfahren?
Nello di Martino: Es war ein Donnerstag. Wir haben am Nachmittag trainiert. Danach bin ich ganz normal nach Hause gefahren. Später rief mich dann unser Trainer Werner Fuchs an und meinte: ‚Nello, hast du schon gehört? Die Mauer ist gefallen!‘ Ich habe geantwortet: ‚Welche Mauer denn? Hast du getrunken? Du warst doch eben noch nüchtern.‘ Er sagte: ‚Nein, mach das Radio an!‘ Und tatsächlich. Ich habe ihn dann direkt abgeholt. Wir wollten zum Brandenburger Tor, sind aber nicht weit gekommen. Am Ernst-Reuter-Platz war schon Schluss. Es standen überall Trabis und Wartburgs. Von diesen Zweitaktmotoren lag ein richtiger Gestank in der Luft. Das war alles sehr historisch, denn damit hatte ja niemand gerechnet. Solange ich schon in der Stadt lebte, war die Mauer da, West-Berlin dadurch wie eine Insel – wir mussten beispielsweise zu fast jedem Auswärtsspiel fliegen. In den folgenden Tagen herrschte Ausnahmezustand. Ich erinnere mich an den Ku’damm: ein riesiges Durcheinander, Autos auf dem Bürgersteig, lange Schlangen vor den Geschäften. Unser Heimspiel gegen Wattenscheid am Samstag ist dann in die Geschichte eingegangen – Freikarten und wohl über 60.000 Leute auf den Rängen. Dieses 1:1 wurde zu einem einmaligen Ereignis, das weder die Spieler noch wir aus dem Trainerstab je vergessen konnten. Wir alle saßen vor dem Anpfiff in der Kabine und spürten das Besondere dieses Moments.
[>]Die Freude war natürlich groß. Wir haben gedacht: Jetzt geht‘s los – wir können überall hinfahren.[<]
Welche Reaktionen haben dich aus deiner Heimat erreicht?
di Martino: Eine lustige Geschichte aus Sorrent bei Neapel hat mir meine Schwester direkt am nächsten Tag erzählt. Die Leute dort sind grundsätzlich sehr erfinderisch. Und sie meinte: ‚Stell dir mal vor, es gab heute schon Steine von der Berliner Mauer auf dem Markt zu kaufen.‘ (lacht) Das werde ich nie vergessen, das war sehr lustig. Ich habe zu ihr gesagt: ‚Mensch, die Mauer steht doch noch. Da sind höchstens ein paar Löcher drin.'
Was hat der Mauerfall für dich persönlich bedeutet?
di Martino: Die Freude war natürlich groß. Wir haben gedacht: Jetzt geht‘s los – wir können überall hinfahren. Zum Beispiel in den Spreewald oder zu den ganzen Seen und anderen schönen Gebieten in Brandenburg. Das haben wir auch gemacht. Nach und nach hat sich alles normalisiert, auch wenn die Entwicklung Zeit gebraucht hat.
Wie war das überhaupt für dich, in einer geteilten Stadt zu leben?
di Martino: Am Anfang wusste ich noch nicht so viel. Man hat die Mauer aber überall gesehen und teilweise auch die Kreuze. Die Leute haben mir dann erklärt, was dahintersteckt. Ich habe mich mit dem Thema auch immer mehr befasst. Es kamen auch regelmäßig Italiener nach Berlin. Messebesucher, Touristen oder die Fußballteams. Ich bin mit ihnen dann immer zum Brandenburger Tor oder zum Gesundbrunnen gefahren, wo man von großen Türmen auf die andere Seite schauen konnte. Hier war das Leben, dort war der Tod. Man hat nicht viel gesehen, vielleicht mal einen Trabi. Das war immer der Moment, in dem die Leute plötzlich ruhig und angespannt reagierten. Sie haben ein Mitgefühl für die Menschen dort auf der anderen Seite entwickelt. Es war für mich sehr wichtig, diese Reaktionen und Gefühle zu beobachten. Ihnen war das nicht egal, sie haben sich in die Situation der anderen hineinversetzt. Sie haben mich anschließend immer gefragt: ‚Nello, wie ist es, hier zu leben?‘ Ich habe ihnen davon erzählt, dass ich durch den Fußball auch Kontakt zur anderen Seite habe und regelmäßig rüber reise.
Wie sahen diese Kontakte aus?
di Martino: Der erste persönliche Kontakt kam 1978 rund um ein Auswärtsspiel im UEFA-Cup bei Dynamo Tiflis zustande. Plötzlich tauchten bei uns im Hotel drei Männer auf: Rex, Felix und Lutz. Sie kamen aus Ost-Berlin und waren Hertha-Fans. Die sind bis nach Georgien gefahren, um ein Spiel von uns zu sehen. Allein dorthin zu kommen, war schon der Wahnsinn. Auf dem Rückflug hatten wir in unserer Chartermaschine noch ein paar Plätze frei. Die Verantwortlichen haben dann entschieden, dass wir die drei mitnehmen. Wir sind über Moskau zurück nach Berlin geflogen und in Schönefeld gelandet. Die drei sind dann direkt von Sicherheitsleuten abgeholt wurden, als wir noch am Gepäckband standen. Da war die Sache erstmal erledigt. Später in der Saison hatten wir ein Spiel bei Dukla Prag, wo wir sie wiedergesehen haben. In der Folge hat sich eine tiefere Freundschaft entwickelt. Verschiedene Spieler von uns wie ‚Ete‘ Beer, Dieter Nüssing, Ole Rasmussen, Uwe Kliemann oder Hans Weiner sind immer einmal im Monat auf einen trainingsfreien Montag nach Ost-Berlin zu ihnen gefahren, ich war auch oft dabei. Wir haben ihnen immer etwas mitgebracht und viel Spaß gehabt, waren meist gemeinsam etwas essen und anschließend hin und wieder auch auf Tanzabenden. (grinst) Der Kontakt blieb über einen längeren Zeitraum bestehen, viel auch telefonisch. Nach dem Mauerfall hat sich das Ganze dann leider irgendwie verloren. Die meisten Spieler waren ja auch nicht mehr da. Der Einzige, der immer übriggeblieben ist, bin ich.