Marko Rehmer im Interview in der Traumfabrik.
Club | 21. November 2024, 19:00 Uhr

„Das speziellste Spiel meiner Karriere“

„Nebelspiel“ heißt zwar ein Thriller der irischen Autorin Sheila Bugler – Herthanerinnen und Herthaner verknüpfen den Begriff aber vor allem mit einer der außergewöhnlichsten Begegnungen in der Vereinsgeschichte unserer Alten Dame. Zugetragen hat sich diese am 23. November 1999. Der FC Barcelona gastierte damals im Olympiastadion. Auf dem Programm stand der 1. Spieltag in der Zwischenrunde der UEFA Champions League. Aus dem geplanten Festabend in der Königsklasse entwickelte sich allerdings ein Akt der Diesigkeit. Die graue Dunstdecke, die über dem weiten Rund lag, wurde mit voranschreitender Uhr dichter und dichter. Das 1:1-Unentschieden geriet fast zur Nebensache. Mittendrin: Marko Rehmer, für den das Duell ein ganz besonderes Pflichtspieldebüt für Hertha BSC bedeutete. „Für die Zuschauer war das natürlich etwas schade, für uns aber generell ein riesiges Ereignis. Die Stimmung war zunächst klasse – aber viele Bekannte von mir haben im Laufe der zweiten Halbzeit dann auch aufgegeben und sind gegangen“, erinnert sich der 1,88-Meter-Mann im Gespräch mit unseren Redakteuren Erik Schmidt und Konstantin Keller. „Auf jeden Fall war es das speziellste Spiel meiner Karriere“, resümiert der ehemalige Verteidiger im Interview, in dem er außerdem auch über Besonderheiten auf dem Feld, seine Sicht auf Kai Michalkes Ausgleichstor und einen erleichterten Luís Figo berichtet.

Marko, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dieses historische Ereignis zu reden. Was kommt dir in den Sinn, wenn du an den 23. November 1999 denkst?
Marko Rehmer: Dass es mein erstes Champions League-Spiel war. Dass es mein erstes Spiel überhaupt für Hertha war. Außerdem erinnere ich mich noch gut an die Gesänge der Fans. Die haben sich schon darüber gefreut, den Ball zu sehen! Zumindest kam es so rüber. Für die Zuschauer war das natürlich etwas schade, für uns aber generell ein riesiges Ereignis.

Du hast es schon angesprochen: Du warst erst im Sommer aus Rostock nach Berlin gekommen, standest aufgrund einer Verletzung zuvor aber noch nicht für unsere Alte Dame auf dem Rasen. Wie schwierig waren die vorangegangenen Wochen und Monate für dich?
Rehmer: Ich hatte mir in der Vorbereitung das Knie verdreht und mir einen Knorpelschaden zugezogen. Das war sehr bitter. Bei Rostock lief es zuvor sehr gut für mich, außerdem spielte ich in der Nationalmannschaft. Dann kam ich zu Hertha und wollte direkt zeigen, warum ich eine recht ordentliche Ablösesumme gekostet habe. Nachdem es mit Hansa gegen den Abstieg gegangen war, richtete sich der Blick bei Hertha nach oben. Wir wollten da weitermachen, wo die Jungs in der Vorsaison aufgehört hatten. Und dann das! Keine Verletzung ist schön, aber zu diesem Zeitpunkt war sie eben noch schlimmer für mich. Da nicht gleich dabei sein zu können, tat schon weh. Ich habe mich dann aber ziemlich schnell zurückgekämpft.

Hat dir die Chance, ausgerechnet gegen so eine Weltauswahl dein Comeback zu geben, zusätzlichen Antrieb verliehen? Was ging dir durch den Kopf, als du gehört hast, dass du gegen die Katalanen beginnen darfst?
Rehmer: Ich habe gezielt darauf hingearbeitet und stand diesbezüglich natürlich auch mit unserem Trainer Jürgen Röber im Austausch. Beim vorangegangenen Spiel gegen Kaiserslautern saß ich auf der Bank. Es gab die Überlegung, dass ich schon da zum Einsatz komme. Wir haben dann aber gesagt: ‚Nein, volle Konzentration auf Barcelona!‘ Mit einem Champions League-Spiel zu starten, hatte etwas. Natürlich ist jeder Einsatz nach einer langen Verletzung schön. Aber Barcelona war schon nochmal spezieller. Ich habe mich nach der Auslosung sehr auf die Partie und den Gegner gefreut. Zumal vor vollen Rängen in diesem Stadion. Auch wenn es dann ein bisschen anders kam (grinst).

Du sagst es. War im Laufe des Tages irgendwie abzusehen, wie sich das Wetter entwickeln würde? Gab es Vorwarnungen?
Rehmer: Es war ein üblicher Novembertag in Berlin. Da wird es schonmal etwas frischer und nebliger. Aber in der Form ließ sich das Ganze nicht absehen – keinesfalls. Noch nicht einmal, als wir zum Stadion fuhren. Das geschah rund um Champions League-Spiele aufgrund des ganzen Drumherums immer etwas zeitiger. Wir kamen vielleicht so zwei Stunden vor dem Anstoß an und schauten uns die Begebenheiten an. Auch da war überhaupt nicht zu erkennen, dass es so schlimm werden würde.

Marko Rehmer gestikuliert im Gespräch.

Es bestand also auch zu keiner Zeit die Gefahr einer Absage?
Rehmer: Nein, das Spiel stand nicht auf der Kippe. Es gab demzufolge auch keine gezielte Vorbereitung auf die Bedingungen. Als wir zum Aufwärmen raus sind, wurde es allerdings schon mehr. Aber nicht so, dass der Anstoß ernsthaft in Gefahr geraten könnte. Auch die ersten Fans waren da bereits im Stadion. Ich glaube, dass das ebenso wie die Rasenheizung vielleicht auch zusätzlichen Einfluss hatte. Es kamen einfach mehrere Faktoren zusammen, so dass sich die Suppe dort sammeln konnte.

Schiedsrichter Nikolay Levnikov pfiff die Partie also wie geplant an. Auf der einen Seite Pep Guardiola, Luís Figo und Patrick Kluivert – auf der anderen Jolly Sverrisson, Michael Preetz und du. Was für eine Ausgangslage! Was hattet ihr euch für den Start der Zwischenrunde vorgenommen? In der Vorrunde hattet ihr schließlich bereits Milan und Chelsea Beine gestellt…
Rehmer: In der ersten Gruppenphase haben wir auf jeden Fall gesehen, dass wir mit den Großen mithalten können. Und das wollten wir gegen den FC Barcelona bestätigen. Gerade zu Hause, im eigenen Stadion. Ich würde behaupten, dass wir ohnehin eine ganz gute Heimmannschaft waren und andere Teams nicht gerade gerne zu uns gekommen sind. Wir wollten demzufolge auch Pep und seinen Kollegen weh tun. Unser Ziel war es, in dieser Gruppe hinter ihnen Zweiter zu werden und eine Runde weiterzukommen. Erst recht, da die Namen der anderen Teams (FC Porto und Sparta Prag, Anm. d. Red.) vermeintlich nicht so groß waren wie die, gegen die wir in der ersten Gruppenphase bestanden hatten.

Oft sind auf diesem Level ja auch die ersten Minuten entscheidend. Wie hast du die auf dem Feld gegen die Weltauswahl erlebt?
Rehmer: Voll im Fokus! Es war eine ähnliche Situation wie bei meinem ersten Bundesligaspiel. Ich habe mich gefreut, hatte gleichzeitig auch eine gewisse Anspannung – aber vor allem war ich fokussiert, weil ich zeigen wollte, was ich kann. Dieses Spiel gegen den großen FC Barcelona war einfach etwas ganz Besonderes.

Hand aufs Herz: Wie froh warst du, dass Rivaldo fehlte und du es als Rechtsverteidiger nicht unmittelbar mit Barças Rechtsaußen Luis Figo zu tun bekamst. Während der Brasilianer amtierender Weltfußballer war, sollte der Portugiese schließlich ein Jahr später den Ballon d’Or gewinnen...
Rehmer: So denkt man nicht! Für Duelle mit solchen Teams und Spielern möchte man ja Fußballer werden. Zumal ich auch schon ganz anderen Namen begegnet bin. Da freut man sich auch einfach darauf, sich mit diesen Leuten zu messen. Ich glaube aber, dass Figo selbst ganz froh war, auf der anderen Seite gespielt zu haben (lacht).

Weniger froh dürfte der Südeuropäer über das Berliner Wetter gewesen sein. Wie hat sich bei euch das Gefühl im Laufe des Spiels verändert? Gerade, als die Nebelschwaden von der Havel immer kräftiger wurden?
Rehmer: Es war kurios. Eigentlich war ich immer so im Tunnel, dass ich das Drumherum gar nicht mitbekommen habe. Klar habe ich mich über die Unterstützung der Fans gefreut, sie vor lauter Konzentration aber eigentlich gar nicht wahrgenommen. Auch in diesem Spiel lief das anfangs alles so nebenher. Aber irgendwann dachte ich mir dann schon so: Oh ja, langsam wird es kritisch. Ich habe dann auch die Fangesänge gehört: ‚Wir haben den Ball gesehen, wir haben den Ball gesehen (singt)!‘ Der Fokus hat sich schon etwas gedreht. Es ging dann eher darum: Können wir weiterspielen? Wie schlimm wird es noch? Obwohl ich parallel ganz genau darauf achten musste, wo sich der Ball gerade befindet. Es war selbst auf dem Platz wirklich nicht leicht und auf den Rängen vermutlich noch extremer. Ich hatte den Schiedsrichter sogar noch gefragt, wie die konkrete Regel lautet. Er sagte zu mir: ‚Von der Mittellinie kann ich beide Tore sehen, also können wir spielen.‘ Mittlerweile ist es ja so, dass dies von Tor zu Tor gegeben sein muss. Damals galt das offensichtlich nicht. Denn das war definitiv nicht gegeben. Kurz nach der Mittellinie war Schluss.

Marko Rehmer und Kai Michalke bejubeln den Ausgleich gegen Barcelona.

Wie viele Mitspieler konntest du im Schnitt so erkennen, wenn du am Ball warst? Hast du das Tor von Linksaußen Kai Michalke klar gesehen?
Rehmer: Also, lange Bälle waren schwierig (lacht). Natürlich ist man während des Spiels dann auch in Bewegung und das Sichtfeld verlagert sich entsprechend. Aber das war definitiv keine normale Konstellation. Ich glaube, heutzutage wäre das Spiel nicht angepfiffen worden. Was den Treffer angeht: Ich konnte den auf jeden Fall sehen, das Tor fiel ja nach einem Querpass von der rechten Seite und von der Strafraumkante. Beim Jubel habe ich dann auch den einen oder anderen Kollegen wiederentdeckt, den ich zuvor eine Weile nicht gesehen hatte! Barcelona war auf jeden Fall froh, dass wir durch die Umstände auch nicht alles zeigen konnten – sonst hätten wir das Spiel natürlich gewonnen (schmunzelt).

Wie hast du die Fans erlebt? Die konnten ja zum Großteil nur erahnen, was ihr gerade auf dem Feld fabriziert… wie war die Stimmung?
Rehmer: Es gab die typischen Gesänge, aber eben auch die vorhin angesprochenen lustigen. Über die habe ich mich auf dem Feld auch köstlich amüsiert. Die Stimmung an sich war zunächst klasse, es waren ja über 60.000 da – aber viele Bekannte von mir haben im Laufe der zweiten Halbzeit dann auch aufgegeben und sind gegangen. Als Zuschauer bist du ja noch weiter weg vom Feld. Mit dem roten Ball, der nach der Halbzeit zum Einsatz kam, wurde es für uns etwas einfacher – aber ob es den Fans geholfen hat, weiß ich nicht.

Du selbst hast bei deinem Comeback 72 Minuten durchgehalten. Wie wirkte die Szenerie dann nach deiner Auswechslung von außen auf dich?
Rehmer: Da hat sich eigentlich nicht viel geändert – ich war froh, dass gesundheitlich bei mir alles gehalten hatte und ich dem Team helfen konnte. Barcelona hat einige Wechsel vorgenommen, deshalb haben wir dann entschieden, dass ich auch runtergehe, zumal ich ja so eine lange Zeit gefehlt hatte. Ich habe dann mit den Jungs mitgefiebert und einfach gehofft, dass nicht plötzlich aus dem Nebel ein Jubel auf der falschen Seite kommt!

Als Team habt ihr auf dem Rasen nach frühem Rückstand relativ zügig antworten und letztlich einen Punkt sichern können. Kannst du dich ans vorherrschende Gefühl erinnern, als das Spiel zu Ende war? Wie fiel euer Fazit in der Kabine aus?
Rehmer: Die Sicht, der Nebel waren schon das vorherrschende Thema – aber eben auch, dass wir dem großen FC Barcelona einen Punkt abgetrotzt hatten. Scherzhaft haben wir gesagt, dass die Katalanen mit diesen Umständen natürlich Glück gehabt hatten – aber auch im Ernst haben wir uns über diesen guten Start in die zweite Gruppenphase gefreut. Am kommenden Tag ging der Fokus dann aber direkt auf das Spiel am folgenden Wochenende.

Marko Rehmer gestikuliert im Gespräch.

War euch bewusst, wie außergewöhnlich, wie kurios dieses Spiel war und dass da durchaus blau-weiße Geschichte geschrieben wurde?
Rehmer: Also, dass wir noch 25 Jahre später darüber sprechen, hat wahrscheinlich in dem Moment niemand geahnt. Aber klar, es war kurios. Ich habe davor und danach auch nie wieder so etwas gesehen, normalerweise wurden solche Spiele dann nicht angepfiffen oder abgebrochen. Dass man selbst auf dem Platz steht und sich fragt, ob und inwiefern das gerade noch Sinn macht, ist schon außergewöhnlich gewesen. Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, dass wir das durchgezogen haben. Auf jeden Fall war es das speziellste Spiel meiner Karriere.

Lass uns nochmal in die Gegenwart gucken: Gegen Ulm seid ihr am Samstag als Mannschaft mal wieder im Olympiastadion vereint. Du kannst leider nicht dabei sein – aber uns interessiert, mit welchen ehemaligen Mitspielern du noch regelmäßig im Kontakt stehst?
Rehmer: Stimmt, ich bin leider unterwegs, bei einem schon lange feststehenden Termin auf den kanarischen Inseln. Aber ich hätte mich riesig gefreut, die Jungs mal wieder zu sehen. Andreas Schmidt sehe ich ab und zu mal, mit Jolly Sverrisson bin ich viel im Austausch, Gábor Király treffe ich auch oft, wenn er in Berlin ist – Fahnenträger unter sich quasi (grinst). Mit Michael Preetz und Dariusz Wosz habe ich auch öfter mal Kontakt. Kai Michalke war damals übrigens mein Nachbar, der Kontakt ist mit der Zeit etwas weniger geworden, deshalb hätte ich mich sehr gefreut, ihn mal wieder zu sehen. Toll wäre auch Basti, Sebastian Deisler, mal wieder zu sehen. Ich weiß aber nicht, ob er auch kommt.

Abschließend: Hast du schonmal den Wetterbericht für Samstagnachmittag gecheckt?
Rehmer: (lacht) Noch nicht! Dadurch, dass es kein Abendspiel ist, sollte diesmal ja hoffentlich alles glattgehen. Ich bin gespannt – der Wetterbericht für Gran Canaria sieht auf jeden Fall gut aus…. Und die alten Kollegen sehe ich dann beim 30-jährigen Jubiläum.

von Konstantin Keller & Erik Schmidt