Walter Frankenstein sitzt im Sessel.
Club | 30. Juni 2024, 00:02 Uhr

Walter Frankenstein wird 100 Jahre alt!

Einer der ältesten und wohl auch inspirierendsten Fans von Hertha BSC feiert am Sonntag (30.06.24) ein ganz besonderes Jubiläum: Walter Frankenstein wird 100 Jahre alt. Aus diesem Anlass besuchten Vertreter unseres Hauptstadtclubs den Anhänger in seiner schwedischen Wahlheimat und überreichten ihm dabei auch eine Autogrammkarte seines einstigen Lieblingsspielers Hermann „Männe“ Hahn. „Das ist unglaublich, dass ich nun von dem Spieler, der vor 88 Jahren mein Idol war, ein Bild besitze“, freute sich Frankenstein, der auch im hohen Alter noch ambitionierte Pläne verfolgt. „Ich hoffe, wir sehen uns im Herbst, wenn ich mich fit fühle und eventuell Berlin besuche. Dass ich dann auch ins Olympiastadion komme, ist ganz klar“, erzählt der Blau-Weiße, dessen Sehkraft mittlerweile stark eingeschränkt ist.

Spezielle Mitgliedsnummer

Einmal Hertha, immer Hertha: Frankensteins Zuneigung für den Verein von der Spree besteht trotz unterschiedlichster Widrigkeiten mittlerweile seit fast 90 Jahren. „Ein Freund hat mich in die Plumpe mitgeschleppt. Dort habe ich Hertha spielen sehen und dann war es geschehen: Seitdem bin ich Fan, seit Herbst 1936. Von da an ist mir Hertha nie aus dem Kopf gegangen“, erinnert sich der Holocaust-Überlebende, zu dem unsere Alte Dame bereits seit einiger Zeit einen engen Kontakt pflegt. „Walter Frankensteins Lebensgeschichte ist unglaublich bewegend. Dennoch hat er über all die Jahre die Liebe zu den Menschen genauso wenig wie zu unserem Verein verloren. Seine Bedeutung als Herthaner und Zeitzeuge, ob in Gesprächen mit Fans oder Nachwuchsspielern, kann nicht genug gewürdigt werden. Ihm gebührt der größtmögliche Respekt“, erklärt Geschäftsführer Thomas E. Herrich. „100 Jahre – was für ein Jubiläum! Hertha BSC gratuliert einem außergewöhnlichen Fan, der ein absolutes Vorbild in Sachen Lebensfreude und Mut darstellt. Unserem Verein zudem über einen derart langen Zeitraum und unter den schlimmsten Umständen die Treue zu halten, bedeutet bedingungslose Liebe. Vielen Dank dafür, lieber Walter Frankenstein!“, betont unser kommissarischer Präsident Fabian Drescher. Längst ist der Jubilar auch Mitglied des Hauptstadtclubs – Mitgliedsnummer: 1924, sein Geburtsjahr.

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Ein Freund hat mich in die Plumpe mitgeschleppt. Dort habe ich Hertha spielen sehen und dann war es geschehen: Seitdem bin ich Fan, seit Herbst 1936. Von da an ist mir Hertha nie aus dem Kopf gegangen.
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-Walter Frankenstein

Eine Tür in Walter Frankensteins Wohnung ist mit lauter Hertha-Dingen geschmückt.
Blau-weiße Erinnerungen: Eine Tür in Frankensteins Wohnung ist mit lauter Hertha-Dingen geschmückt.

Rückkehr ins Olympiastadion nach 82 Jahren

Der Kontakt zu Walter Frankenstein kam über die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zustande, die sich intensiv um Überlebende des Holocaust kümmert. Die Stiftung ist auf die Projekte der Reihe „Aus der eigenen Geschichte lernen“ aufmerksam geworden und hat den Kontakt vermittelt. Im Februar 2018 besuchte Frankenstein dann erstmals ein Heimspiel seiner Herthaner im Olympiastadion. Es war der Sommer 1936, als er diesen Ort zuvor zuletzt betreten hatte: bei den Olympischen Spielen, die Adolf Hitler und die NSDAP für ihre Propaganda-Zwecke missbrauchten. In der langen, langen Zeit dazwischen hatte der Weg des Blau-Weißen nicht ins weite Rund geführt. Die Rückkehr nach so langer Zeit war für ihn demzufolge ein höchst emotionales Ereignis: „Wenn man das erste Mal an diesen Ort, an dem man die Olympischen Spiele 1936 erlebt hat, zurückkommt, weckt das enorme Bilder in einem“, so Frankenstein damals. „Ich sehe nicht nur das Olympiastadion, sondern auch meinen Onkel, mit dem ich die Spiele besucht habe und der später im Baltikum erschossen worden ist.“

Im selben Jahr, in dem die Olympischen Spiele in Berlin stattfinden, entwickelt Frankenstein als junger Mann seine Zuneigung für Hertha BSC. Damals pilgert er zusammen mit seinen Freunden in die Plumpe, das Stadion am Gesundbrunnen, wo Hertha – abgesehen von einigen Unterbrechungen – zwischen 1924 und 1968 die Heimspiele austrägt. Lautstark und voller Überzeugung feuert er sein Team an. So treu Frankenstein seinem Herzensverein über all die Jahre geblieben ist, so beschämend ist allerdings der Hintergrund, warum es ihn seinerzeit überhaupt nach Berlin verschlagen hat.

Von Flatow in das Auerbach'sche Waisenhaus

Am 30. Juni 1924 wird Walter Frankenstein in Flatow, das heute zu Polen gehört, geboren. Zwölf Jahre später erhält er den Verweis von seiner Volksschule – genauso wie alle anderen Schüler jüdischen Glaubens auch. Frankensteins Vater war bereits einige Jahre zuvor gestorben. So kommt der Jugendliche am 27. Juli 1936 in die Spreemetropole, um überhaupt eine Schule besuchen zu können – vier Tage vor Beginn der Olympischen Spiele. Sein Onkel hat ihm einen Platz im Auerbach'schen Waisenhaus verschafft, das Frankenstein später die „Insel im braunen Meer“ tauft. Es war ein Ort, an dem er sich als jüdischer Jugendlicher sicher gefühlt hat, abgekapselt von der Welt draußen, in der die Nationalsozialisten geherrscht haben.

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Es ist nun mal so: Wenn man in seiner Kindheit und Jugend an einem Verein gehangen hat, dann wird man diese Liebe nie wieder los. Hertha ist ein Teil meines Lebens - einmal Hertha, immer Hertha!
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-Walter Frankenstein

Große Bedeutung als Zeitzeuge: Frankenstein sucht regelmäßig das Gespräch mit jungen Menschen.

In der Hauptstadt besucht der junge Walter die Jüdische Schule in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. Schon in Flatow ein fußballbegeisterter Junge, kommt er wie eingangs beschrieben in Berlin zum ersten Mal mit Hertha in Berührung. Doch nicht nur an die Alte Dame verliert Frankenstein sein Herz. Er lernt Leonie Rosner kennen, die beiden verlieben sich ineinander und heiraten im Frühjahr 1942. Bereits im Oktober 1941 beschließen sie, im Zweifelsfall unterzutauchen und Hitler zu überleben. Als sie mitbekommen, wie Walter Frankensteins Cousin mit einem der ersten Juden-Transporte aus Berlin ins Ghetto Litzmannstadt deportiert wird, sagen sie sich: „Nicht mit uns!“

Überleben im Untergrund

Im März 1943 tauchen die Frankensteins zusammen mit ihrem sechs Wochen alten Sohn schließlich unter. Die Nationalsozialisten verhaften Ende Februar/Anfang März 1943 im Rahmen der Fabrik-Aktion in Berlin innerhalb weniger Tage mehrere tausend jüdische Zwangsarbeiter, die Stadt soll bis zum Sommer 1943 „judenrein“ werden. Auch Leonie Frankenstein wird in diesen Tagen kurzzeitig inhaftiert und entkommt nur knapp der Deportation. Walter Frankensteins Mutter jedoch hat keine Chance zu fliehen: Sie wird am 1. März 1943 von Berlin-Grunewald nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dem jungen Ehepaar in Berlin wird deutlich, dass ihre Deportation nur eine Frage der Zeit ist, sie verstecken sich. Leonie wird kurz darauf erneut schwanger und bekommt einen zweiten Sohn – für das Leben in der Illegalität ein großes Risiko. Es grenzt an ein Wunder, dass die vierköpfige, junge Familie den Nazi-Terror überlebt. „Um den Krieg und die Verfolgungen zu überstehen, kam es für uns auf mehrere Dinge an: Wir waren frech, wir hatten gute Freunde, keine Angst, und riesiges Glück“, fasste Frankenstein zusammen. Immer wieder gibt es Situationen, in denen sie von der Gestapo kontrolliert werden oder Nachbarn ihre Unterschlupfe aufspüren. Walter Frankenstein verbringt die meiste Zeit in Berlin und versteckt sich in Trümmerhäusern, alten Autos, Wohnungen von Bekannten und im Grunewald. Leonie überlebt mit den Kindern auf einem Bauernhof im Umland von Berlin – unter falscher Identität.

Nie wieder!

Nach Kriegsende wollen die Frankensteins mit Deutschland bis auf Weiteres nichts mehr zu tun haben. Sie wandern aus. Erst nach Palästina, dann nach Schweden, wo Walter Frankenstein immer noch in einem Vorort Stockholms wohnt. Einer seiner beiden Söhne sowie seine Frau sind inzwischen verstorben. In der jüngeren Vergangenheit besuchte Frankenstein, der mittlerweile schwedischer Staatsbürger und Atheist ist, Deutschland aber wieder regelmäßig. Dabei suchte er in Schulen und auf Veranstaltungen das Gespräch – vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Auf diese Weise wollte er seinen Teil dazu beitragen, dass sich eine Zeit wie die während des Nazi-Regimes nie wiederholt. Um zu verhindern, dass sich Diskriminierungen in der Gesellschaft ausbreiten, gab er den Kindern beispielsweise mit auf den Weg: „Denkt selbst, lasst euch nicht von Parolen manipulieren und helft Menschen in Not.“ Auf seinen Reisen hat er stets ein Foto seiner Ehefrau dabei. Außerdem hat er den Judenstern, den er ab 1941 offen tragen musste, sowie das Bundesverdienstkreuz, welches er 2014 für sein Wirken als Zeitzeuge erhalten hat, stets in einer Schatulle in seiner Tasche. „Mit dem Judenstern wurde ich gezeichnet. Mit dem Verdienstkreuz wurde ich ausgezeichnet – vom selben Land“, erklärte Frankenstein treffend.

Dass Frankensteins Liebe zu Hertha BSC den Krieg und die harten Jahre im Untergrund überlebte, war keine Selbstverständlichkeit – insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Verein als einer von vielen spätestens 1940 alle Mitglieder jüdischen Glaubens ausgeschlossen hat. „Auch Hertha hat Fehler gemacht. Meine Liebe zum Club ist allerdings nie weggewesen“, meinte Frankenstein. „Es ist nun mal so: Wenn man in seiner Kindheit und Jugend an einem Verein gehangen hat, dann wird man diese Liebe nie wieder los. Hertha ist ein Teil meines Lebens - einmal Hertha, immer Hertha!“

von Hertha BSC