Ralf Kisting, Neil Zalkind und Vincent Pell stehen nebeneinander in einem Tor.
Club | 26. Oktober 2023, 11:00 Uhr

Kein Spiel ohne Schiris

Neil Zalkind ist einer von 34 Unparteiischen, die für unseren Hauptstadtclub zur Pfeife greifen. Wie auch unsere Fußballerinnen und Fußballer träumt der 16-Jährige davon, irgendwann ganz oben anzukommen. Dabei weiß der junge Referee, dass er aktuell in der Ausbildung und damit noch ganz am Anfang seiner Karriere steht. „Auch wenn es vielleicht unrealistisch ist, habe ich das Ziel, eines Tages in der Bundesliga zu pfeifen. Kurzfristig gesehen, muss ich aber natürlich erst einmal meine Prüfung bestehen“, sagt der Herthaner. Die ersten Schritte auf diesem Gebiet beobachtet Ralf Kisting genau. Als Schiedsrichter-Obmann begleitet der 52-Jährige, der seine Karten nach knapp drei Jahrzehnten zur Seite gelegt hatte, die neue Generation ganz eng.

Neil Zalkind lehnt am Pfosten eines Tores.

Von dieser beeindruckenden Erfahrung ist Zalkind noch weit entfernt. An einen erfolgreichen Anfängerlehrgang schließt sich in der Regel die Leitung der ersten Partien im Kleinfeld-Nachwuchsbereich an, bei denen zunächst noch ein Pate aus dem eigenen Verein unterstützt. Erst dann folgen auch Einsätze auf Großfeld. „Ich hatte tatsächlich schon länger den Plan im Hinterkopf, Schiedsrichter zu werden. Bereits als Kind habe ich diese Rolle gerne übernommen“, erzählt der Schüler. „Ohne Schiedsrichter gibt es kein Spiel – man hat die Kontrolle, alle hören einem zu. Das hat mir zugesagt, weil ich auch gerne laut spreche. Und das muss man in dieser Funktion auch“, so Zalkind weiter. Aber auch die Schwierigkeiten rund um das Schiedsrichterwesen sind dem Novizen bewusst. „Es gibt leider regelmäßig viele unschöne Vorkommnisse. Ich glaube allerdings, dass ich es nicht so weit kommen lassen würde. Ich denke, dass ich ganz gut mit Konflikten umgehen kann“, unterstreicht der Charlottenburger, der bereits drei Monate nach seiner Geburt zum Mitglied bei unserer Alten Dame wurde.

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Es geht generell um einen fairen Umgang – das fängt beim Geld an, hört aber nicht beim Geld auf. Wir sind auch nur Menschen und keine Roboter, haben Gefühle und machen Fehler – das muss einfach mal verstanden werden.
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-Vincent Pell

Vincent Pell gehört ebenfalls zu den blau-weißen Unparteiischen. Sein Pensum: mindestens vier Begegnungen pro Monat in der Bezirks- bzw. Landesliga. Der 21-Jährige kennt aber ebenfalls die Schattenseiten auf dem Platz. Schattenseiten, die nun dazu geführt haben, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) das Jahr der Schiris ausgerufen hat. Deswegen engagiert sich unser Spreeathener auch auf anderer Ebene. „Im Internet existieren viele furchtbare Videos, auf denen Schiedsrichter bedroht werden oder Gewaltvorfälle erleben müssen. Ich kenne selbst Unparteiische, die nach Attacken im Koma lagen – aus diesem Grund ist es mir ein sehr, sehr wichtiges Anliegen, Schiedsrichter vor dem Sportgericht zu vertreten und für gerechte Strafen zu kämpfen“, sagt Pell, der 2018 erstmals eigenständig eine Partie geleitet hat. „Es geht generell um einen fairen Umgang – das fängt beim Geld an, hört aber nicht beim Geld auf. Wir sind auch nur Menschen und keine Roboter, haben Gefühle und machen Fehler – das muss einfach mal verstanden werden“, betont der Referee, der früher selbst für diverse Vereine im Berliner Südwesten als Torwart im Einsatz war, vor fünf Jahren aber die Seiten gewechselt hat: Tagtägliches Training tauschte er zugunsten der Schule gegen das Pfeifen ein.

Vincent Pell zeigt die Rote Karte.

Der Beamte hatte zunächst verschiedene Vereine kontaktiert – von unserem Hauptstadtclub und Kisting gab es direkt positives Feedback. „Da ich eh schon Vereinsmitglied war, hat mir die Idee, für Hertha zu pfeifen, auch sofort gefallen“, so Pell. Nach einem Treffen war für beide Seiten alles klar. Längst hat er zahlreiche Erfahrungen auf den Plätzen in Spreeathen gesammelt. „Ich musste lernen, Menschen besser einzuschätzen und in der jeweils passenden Art und Weise mit ihnen zu kommunizieren. Diese Kommunikation macht mir extrem Spaß. Das Ganze hat mich als Persönlichkeit deutlich weitergebracht – ich bin viel selbstbewusster geworden, seitdem ich pfeife“, sagt der Blau-Weiße. Pell benennt dennoch weitere Missstände rund um das Schiedsrichterwesen: „Das Wichtigste, und das fehlt leider noch viel zu oft, ist der Respekt gegenüber den Unparteiischen. Sie gehören in vielen Vereinen noch nicht zum Selbstverständnis dazu. Es ist meist noch so, dass man sie haben muss, um keine Strafen zu zahlen – das ist bei uns zum Glück anders. Wir haben ein Zugehörigkeitsgefühl wie in einer Familie.“

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Wir sprechen schon seit einigen Jahren über Gewalt gegen Schiedsrichter und sind alle gefordert, daran zu arbeiten – vor allem die Vereine, die sich Schulter an Schulter stellen müssen.
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-Ralf Kisting

Ein Fakt, auf den Kisting besonders stolz ist und den eine Begebenheit beim jüngsten Zusammentreffen unserer Schiedsrichter-Gruppe unterstreicht: Als die Unparteiischen zum Gruppenfoto vor der Geschäftsstelle posieren, stellt sich kurzerhand auch Kay Bernstein dazu, anschließend bedankt sich das Cluboberhaupt bei allen für den wöchentlichen Einsatz. „Wir sind respektiert und akzeptiert im Verein. Wir können jederzeit mit Wünschen kommen und stoßen stets auf offene Ohren. Es kommt nun darauf an, dass auch in die anderen Vereine zu tragen“, erklärt der Obmann, der seine Laufbahn in der niedersächsischen Heimat begonnen hatte. „Meine Geschichte ist die der meisten Schiedsrichter – mir fehlte das Talent zum Fußballspielen“, so Kisting, der hinzufügt: „Nachdem ich meine erste Partie gepfiffen habe, dachte ich mir: Du hast ja ein ganzes Spiel miterlebt – von Anfang bis Ende. Als Schiedsrichter konnte mich niemand auswechseln. Obendrein hat es sogar Spaß gemacht.“ Aufgrund einer gewissen Begabung kam der Personal- und Lohnbuchhalter zwischen 1985 und 1996 in Begegnungen zum Zuge, bei denen er als Spieler wohl nie mitgewirkt hätte. Kisting war in dieser Zeit gleich mehrere Klassen höher als seine Kumpels mit dem Dorfverein unterwegs. „Ich habe dabei sensationelle Erlebnisse machen dürfen und bin so lange dabeigeblieben, bis sich die Prioritäten verschoben haben“, erklärt der Familienvater, der mit dem Umzug nach Berlin einige Jahre später wieder frische Motivation schöpfte.

Ralf Kisting im Porträt.

2009 kam Kisting auf einem Fanfest mit dem damaligen Schiedsrichter-Obmann unseres Vereins ins Gespräch und fasste den Entschluss, in der neuen Heimat wieder anzufangen. „Ich wollte eigentlich nur ein bisschen Kreisliga C pfeifen, dann bin ich nach und nach bis in die Bezirksliga aufgestiegen und hatte großen Spaß“, erzählt der Unparteiische, der 2017 aufgrund einer Knieverletzung aufhören musste. Seitdem widmet er sich anderen Aufgaben und Themen. „Wir sprechen schon seit einigen Jahren über Gewalt gegen Schiedsrichter. Inzwischen hat sich das Problem sogar noch verschärft – auf dem Rasen gibt es Aggressionen unter Spielern, Trainern, Zuschauern oder auch Eltern. Wir sind alle gefordert, daran zu arbeiten – vor allem die Vereine, die sich Schulter an Schulter stellen müssen“, so Kisting.

Aber auch die Ausbildung des Nachwuchses liegt dem Herthaner am Herzen. „Ein Schiedsrichter zeichnet sich dadurch aus, dass er sich nicht in den Vordergrund stellt, sich mit dem Spiel und dessen Bedeutung auseinandersetzt und das Geschehen aufgrund seiner Persönlichkeit leitet. Er gehört dazu wie der Torwart, wie der Stürmer, wie der Trainer“, betont Kisting, der sich vor allem über weitere weibliche Mitstreiterinnen freuen würde. Momentan gehört in Amra Caković lediglich eine Frau der blau-weißen Gruppe an. „Ich höre es oft, wenn ich mich mit Schiedsrichteranwärtern unterhalte, dass sie einmal in der Bundesliga pfeifen möchten“, berichtet der Referee, „meine Standardantwort ist dann immer: Es ist mir völlig egal, ob du mal in der Bundesliga pfeifst – mein Ziel ist es, dass ich dich irgendwann mal für 20 Jahre als Schiedsrichter ehre. Und das am liebsten bei Hertha. Dann hätten wir eine ganze Menge erreicht.“ Neil Zalkind hat bei diesen Worten ganz genau hingehört.

von Erik Schmidt