Exil-Herthaner Lennart Kraatz steht im Hertha Trikot vor einen indischen Wahrzeichen.
Fans | 5. September 2022, 18:00 Uhr

Je weiter entfernt, desto größer die Liebe

Wie der Fußball kann auch das Leben im Allgemeinen immer wieder für Überraschungen sorgen – so geschehen bei Lennart Kraatz, der nicht nur sich selbst, sondern auch sein blau-weißes Umfeld mit ganz besonderem Mut verblüffte. Aufgewachsen als Rand-Berliner in Hennigsdorf begleitete ihn seine Liebe zu unserer Alten Dame über Köln bis nach Indien. Das Interessante? Je weiter sich der Brandenburger von der Heimat entfernt, desto größer ist seine Begeisterung für unseren Hauptstadtclub. „Als ich nach Köln gezogen bin, ist der Groschen gefallen. Ich wusste erst dann: Hertha ist es“, berichtet der Brandenburger.

Alte Haudegen wecken Interesse

Dass es keine Liebe auf den ersten Blick war, ist fast verständlich. Als der Hennigsdorfer so richtig mit Fußball in Berührung kommt, geht er schon zur Schule. Auf den Pausenhöfen der frühen 90er-Jahre dominieren zwei Vereine: der FC Bayern München und Borussia Dortmund. Doch Kraatz hat Glück: Sein Onkel wird Ende des Jahrtausends Zeugwart unseres Vereins und weckt somit Begeisterung für Blau-Weiß – er bringt ihm hier mal Tickets oder da mal ein paar Autogrammkarten von alten Haudegen wie Andreas „Zecke“ Neuendorf oder dem inzwischen verstorbenen Alex Alves mit. Es ist allerdings ein anderer Spieler, über den unser Exil-Fan in Begeisterungsstürme gerät: „Marcelinho war für mich der Unterschiedsspieler. Wegen ihm bin ich gerne ins Stadion gegangen.“ Ebenso schwärmt er für die Anekdoten unseres exzentrischen Offensivmannes. „Ich kann immer noch schmunzeln, wenn ich daran denke, wie unsere damalige Nummer 10 sich die Deutschland-Fahne ins Haar färben wollte, es aber am Ende Belgien wurde.“

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Ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich daran denke, wie Marcelinho sich die Deutschland-Fahne ins Haar färben wollte, es aber am Ende Belgien wurde.
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-Lennart Kraatz

Einsamer Kämpfer findet Gleichgesinnte

Nach dem Abitur lässt Kraatz Marcelinho und die Hauptstadt erst einmal hinter sich und zieht nach Köln, um eine Ausbildung zu machen. Als Herthaner ist er dort allein. Umgeben von FC-Fans wird seine Zuneigung für unsere Farben allerdings nur noch intensiver. Zunächst noch einsamer blau-weißer Kämpfer in einer rot-weißen Stadt, findet er durch Zufall eines Tages Gleichgesinnte. „Ich war in meinem Hertha-Trikot im Park, als mich auf einmal jemand antippte und fragte, ob wir die Spiele nicht in Zukunft zusammen schauen wollen.“ Schnell wuchs die Hauptstadttruppe von drei auf fünf Fans an. Sie begannen bei Auswärtsspielen im Rheinland Flugblätter zu verteilen und gründeten eine WhatsApp-Gruppe. Schon bald waren es über ein Dutzend Herthanerinnen und Herthaner - Reisen in die unterschiedlichsten Stadien, gemeinsame Grill-Abende und Viewings der weit entfernten Heimspiele wurden Normalität. Inzwischen sind es meist über 30 Teilnehmende, die bei den Partien unserer Alten Dame aus dem Rheinländer Exil mitfiebern.

Exil-Fan Lennart Kraatz zeigt einen indischen Gruß.
Lennart Kraatz sendet blau-weiße Grüße aus Indien!

Von der Domstadt ins harmonische Chaos

Die Kölner Zeiten mit seinen Jungs endeten für den 36-Jährigen mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Durch ein Jobangebot im Konsulat von Mumbai brach er mit einiger Überwindung die Zelte in Deutschland ab und zog nach Indien. Dort angekommen erwartete ihn ein „positiver Kulturschock“. Die Bewohner der westindischen Metropole beschreibt der Verwaltungsangestellte als „unglaublich freundlich. Hier hat immer jemand ein Lächeln für dich. Je ärmer die Menschen sind, umso mehr teilen sie mit dir.“ Und abermals ist Kraatz mit seiner Leidenschaft für unseren Hauptstadtclub in einer fremden Stadt auf sich gestellt, denn dort ist Cricket die Sportart Nummer eins. Zudem wird ihm manchmal das „harmonische Chaos“ der Millionenstadt zu viel und zeitweise sehnt sich der Fan nach „ruhigen Waldspaziergängen und frischer Luft.“

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Es ist verrückt. Da sitzen wir am anderen Ende der Welt - drei Fußball-Fans in den Farben getrennt, aber in der Sache vereint.
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-Lennart Kraatz

Überraschungsmomente im Abstiegskampf

Es ist allerdings vor allem die Sehnsucht nach unserer Alten Dame, die ihn zurück in deutsche Gefilde zieht. Unsere Spreeathener befinden sich am Ende der Saison 2021/22 mitten im Abstiegskampf, als Kraatz sich dazu entschließt, zum alles entscheidenden Duell am 34. Spieltag nach Dortmund zu reisen. Denn, „wenn wir das jetzt schaffen, werde ich immer bereuen, nicht dabei gewesen zu sein“, so seine Gedanken damals. Einmal den Entschluss gefasst, ist der Flug schnell gebucht und Kraatz Donnerstagnacht vor dem Spiel am Samstag unterwegs Richtung Westen. Begleitet wird der Fan von einem Arbeitskollegen, der es mit Rot-Weiß Essen hält und seinem Club beim möglichen Aufstieg in die 3. Liga beistehen möchte. Zwischenstopp machen die beiden in Abu Dhabi. Am Flughafen lernen sie in einem Irish Pub einen weiteren Exil-Fan kennen: ein Frankfurter aus Tokio, auf dem Weg seine Eintracht im Saison-Finale zu unterstützen. „Es ist verrückt. Da sitzen wir am anderen Ende der Welt – drei Fußball-Fans in den Farben getrennt, aber in der Sache vereint", erinnert sich der Herthaner. Vom Frankfurter Flughafen reist Kraatz weiter nach Köln. Seine Jungs erwischt der Brandenburger dort am Samstagvormittag unerwartet, denn der alte Treffpunkt ist ihm noch wohlbekannt. Die Freude ist groß, wird aber von der bitteren Niederlage im Westfalenstadion getrübt. „Ich würde es trotzdem immer wieder tun, nur um noch einmal die Gesichter meiner Freunde zu sehen, als ich sie überrascht habe“, sagt der Blau-Weiße. Der Rest ist bekanntlich Geschichte und am Ende gab es für Kraatz und unsere Elf von der Spree ein Happy End. Mit einem glücklichen Lächeln schließt der Exil-Herthaner seine Geschichte: „Ich bilde mir ein, die Jungs wussten von meinem Kommen und wollten es gegen den HSV dann einfach besser machen.“

von Noelle Feuer